Auch keine Wahlfreiheit
Warum greife ich zu dem einen Brötchen und nicht zum anderen? - Weil ich es will! - Aber warum will ich es? - Der Anblick dieses Brötchens erweckt in mir stärkere angenehme Gefühle als das andere. Und was ist, wenn beide gleichstarke angenehme Gefühle in mir erwecken? - Dann erlebe ich, was wir als "die Qual der Wahl" bezeichnen. Nehme ich das Brötchen A, dann gehen mir die guten Gefühle verloren, die das Brötchen B "verspricht". Entscheide ich mich für B, gehen mir die guten Gefühle verloren, die mir das Brötchen A "verspricht". Wenn ich mich nicht entscheiden kann und genug Geld im Portemonnaie habe, werde ich beide kaufen "wollen". Dann erhalte ich mir die Chance auf die guten Gefühle, die mir der Anblick von beiden Brötchen erzeugt haben und muss auf keins verzichten. Wenn das Geld aber bereits für eine Flasche Milch eingeplant ist und deshalb nicht reicht, muss ich wieder abwägen. Milch oder das zweite Brötchen? Beides geht nicht. Erzeugt die Vorstellung von "keine Milch kaufen" ungute Gefühle und wenn ja, wie stark sind sie? Oder erzeugt die Vorstellung von "Milch kaufen" stärkere gute Gefühle als das zweite Brötchen? Dieses Abwägespiel kann äußerst bewusst ablaufen oder auch unbewusst bleiben. In jedem Fall bestimmen die Gefühlsgewichte unsere Auswahl, die Entscheidung für oder gegen etwas.
Wenn wir uns etwas vorstellen, wie zum Beispiel das Brötchen, dann werden auch die damit verbundenen Gefühle in uns aktiv. Je angenehmer das Gefühl, umso stärker "wollen" wir es. Die Stärke des Gefühls können wir nicht frei bestimmen. Sie ist abhängig von unseren Erlebnissen und Erfahrungen, die mit dem Brötchen verbunden sind. So ist es mit allem, was wir haben "wollen".
Noch ein Beispiel: Warum nehme ich beim Einkauf die Kasse A anstatt die Kasse B, um die Waren zu bezahlen? - Weil ich annehme, dort schneller dran zu kommen. Aber warum will ich schneller dran kommen? - Weil ich schneller nach Hause kommen will. Und warum will ich schneller nach Hause kommen? - Weil ich mich in die Hängematte legen will. - Und warum will ich mich in die Hängematte legen? - Weil sich das gut anfühlt und ich mir im Moment nichts Schöneres vorstellen kann, den Feierabend zu beginnen.
Und wer kennt es nicht? Ich habe also die (unfreie, weil durch die Gefühle vorgeschriebene) Auswahl getroffen und mich für die Kasse A entschieden. Aber, was nun, da geht es plötzlich bei der Kasse B viel schneller voran. "Soll ich jetzt noch wechseln?," überlege ich. "Dann könnte ich noch schneller zu Hause sein und mich in die Hängematte legen", so läuft es unbewusst in mir ab. Also rüber zur Kasse B. Aber bevor ich da bin, haben sich zwei andere, vermutlich hatten sie dieselbe Idee, in die Schlange eingereiht. Und mein Blick in deren Einkaufswagen lässt nichts Gutes erwarten. Dieses Gedankenspiel wird von einem unguten Gefühl, das wir allgemein als "Ärger" kennen, begleitet. Warum kommt der Ärger hoch? Die vollen Einkaufswagen sind nicht daran schuld. Ich sollte sie deswegen auch nicht treten, nicht einmal gedanklich. Nein, es ist der zunichte gemachte Plan. Und an dem Plan hängen die guten Gefühle. So hat jetzt meine Stimmung einen Knacks bekommen. Als mein unfreundlicher Blick von den "Besitzern" der unangenehm vollen Einkaufswagen vor mir wahrgenommen wird, höre ich die beiden tuscheln: "Was für ein unfreundlicher Zeitgenosse". Natürlich meinen sie mich damit. "Das haben wir gern, sich vordrängeln, und dann noch Applaus erwarten", denkt es in mir. - Wenn wir wissen, wie Verhalten abläuft, kommen wir schneller heraus aus dem unguten Gefühl, und wir vermeiden damit, draußen auf dem Parkplatz dem "Kassenschlangen-Nachbarn" ein Kaugummi auf die Motorhaube seines Autos zu drücken oder den Stern zu stehlen. Unser Ärgergefühl hätten wir auf diese Weise loswerden wollen, indem wir dem anderen ungute Gefühle bereitet hätten. – Siehe „Verhaltensgesetz“.
Was ich hier versuche humorvoll darzustellen, kann aus ähnlichen vergleichsweise unbedeutenden Anlässen sogar zu Gewalttaten führen. Die Nachrichten sind voll davon. Würde das Verhaltensgesetz den Beteiligten bekannt sein, ließen sich diese extremen Taten vermeiden.
Jeder wird Beispiele aus seinem Alltag finden, wo er auswählen und sich entscheiden musste. Wer das wie oben beispielhaft angeführt nachfragt, warum er sich für oder gegen etwas entschieden hat, wird letztendlich feststellen, dass seine Gefühle das Zünglein an der Waage waren. Und da die Gefühle unserer freien Bestimmbarkeit entzogen sind, kann auch unsere Wahl nicht als "frei" bezeichnet werden.
Wir wählen immer das, was mit den stärksten angenehmen Gefühlen oder geringsten unangenehmen Gefühlen verbunden ist.
Bei unseren Gewohnheiten treffen wir keine bewusste Auswahl mehr. Da ist aus unseren Erfahrungen bereits früher die Auswahl getroffen worden und als Verhaltensmuster gespeichert, auf welche Weise die angenehmsten Gefühle erreicht oder die geringsten unangenehmen Gefühle in Kauf genommen werden.
Gefühle sind immer beteiligt - von besonders intensiv stark bis kaum wahrnehmbar.
Weder beim Willen noch bei der Wahl ist es korrekt, davon zu sprechen, dass sie "frei" wären. Gefühle bestimmen unseren Willen und unsere Wahl. Weil die Gefühle ein Teil von uns sind, sagen wir, "wir entscheiden" und "wir wollen". Und weil das, was unsere Gefühle uns "vorschreiben", uns fördert, erleben wir das nicht als Zwang und uns nicht als unfrei (jedenfalls im Normalfall und von krankhaften Zwängen abgesehen). Dies ist die Ursache für die Illusion der Willensfreiheit und der Wahlfreiheit.